Meine Bilder sind Andachtsbilder und sorgen für Entschleunigung
1. September 2025Auf einen Kaffee mit Volkmar Herre
Der 1943 in Sachsen geborene Fotograf und Buchgestalter Volkmar Herre interessierte sich schon als Zwölfjähriger mit einer Box für die Fotografie. Im Berufsleben kamen für vielfältige Aufgaben großformatige Fachkameras zum Einsatz. Heute gehört er zu den international bekanntesten Vertretern linsenloser Fotografie, die das Abbildprinzip der „Camera obscura“ nutzt, das schon in der Antike bekannt war. Die von ihm praktizierten Langzeitbelichtungen, die bis zu einem Jahr dauern können, kennzeichnet er als „Herrografie“. Wir treffen uns im Kontor von rügendruck, wo ein immerwährender Kalender soeben fertiggestellt wurde.
Sie haben gemeinsam mit rügendruck gerade Ihren Kalender mit dem schönen Titel „Naturschau“ fertiggestellt, was sieht man denn darin?
In meinem immerwährenden Kalender sieht man Naturbilder, die auf Rügen entstanden sind. Das scheinbar Vertraute wirkt jedoch wie eine fremde geheimnisvolle Welt und führt den Betrachter in das Reich der Transzendenz. Auch wenn ich meine Motive immer auf der Insel Rügen finde, könnten sie in der weiten Welt entstanden sein. Dann sieht ein Kreidebild aus wie ein Lavastrom, man denkt an Wüstenbilder oder vielleicht an Felsformationen in Spanien. Abbilder schaffen – das kann heute jeder. Doch mir ist wichtig eine Verwandlung, die uns in Staunen versetzt.
Dieser Kalender hat kein Kalendarium und erfüllt auch sonst nicht den Zweck, das Leben nach Termin zu organisieren.
Ich habe schon mehr als dreißig Kalenderjahrgänge in unterschiedlicher Gestaltung, sowohl schwarzweiß als auch farbig, veröffentlicht. Seit 1999 sind es ausschließlich Bilder, die mit einer linsenlosen „Camera obscura“ entstanden sind. Konstant ist das Druckformat von 62 x 45 Zentimeter. Der neue Kalender lädt durch den Dreiklang von Bild, Bildtitel und einem Zitat zur Kontemplation ein. Ein Beispiel kann dies verdeutlichen: Das Januarblatt hat den Titel „Plateau“. In der Realität sind es Kreideklüfte bei der Victoriasicht, aber hier in einer Fremdheit durch Licht. Zum Bedenken steht von dem japanischen Samurai Miyamoto Musashi ein Zitat dabei: „Du musst verstehen, dass es mehr als einen Weg zur Spitze des Berges gibt.“
Dies wirkt ein wenig aus der Zeit gefallen, wo doch für viele der Alltag nach dem Prinzip „Schneller, höher, weiter“ verläuft.
Meine Bilder sind Andachtsbilder und sorgen für Entschleunigung. Das beginnt bei der Entscheidung für die Lochkamera und eine einzige Belichtung. Diese kann wenige Minuten aber auch eine halbe Stunde dauern. Ich muss allein sein und empfinde das Warten als Geschenk. Ich schwinge mich emotional auf die jeweilige Natursituation ein, die Brandung der Ostsee, der Wind in den Bäumen, ziehende Wolken. Die Zeit, in der das Bild entsteht, – man kann es gar nicht beschreiben, wie schön das ist – ein wenig wie ein Rausch. Obwohl es Anspannung ist und Kräfte verzehrt, gibt es auch viel Kraft.
Wie arbeiten Sie denn konkret? Müssen sie viel Ausrüstung mitnehmen?
Ich trage meist zwei „Geschwister“ hölzerner Lochkästen, einige Kassetten für Filme im Format 9 x 12 Zentimeter, einen kleinen Belichtungsmesser und ein stabiles Stativ, das schon seit über 60 Jahren in Gebrauch ist. Meistens habe ich bei meinen Touren genaue Vorstellungen, was ich suche, aber es kann auch ganz anders kommen, wenn mich Motive überraschen. Was viele für scheußliches Wetter halten, ist das beste Wetter für meine Fotografie. Eine schöne Freiheit meiner künstlerischen Arbeit.
In ihrem Werk gibt es vorwiegend Aufnahmen in Schwarzweiß. Was bedeutet Ihnen diese Reduktion?
Die Fotografie hat vor 200 Jahren einmal so begonnen. Als ich mir die Fotografie in der Schulzeit aneignete, meine Ausbildung erhielt, dann an der Hochschule für Buchkunst und Grafik in Leipzig studierte und später in der beruflichen Praxis, waren die Ergebnisse der Farbfotografie oft noch unbefriedigend. Heute ist man mit Schwarzweißfotografie fast ein Exot. Für mich bedeutet aber Schwarzweiß, wie dem Fotografen Andreas Feininger im 20. Jahrhundert, die „Hohe Schule“ der Fotografie – in einer Handhabung, dass man Farbe nicht vermisst und in allen möglichen Varianten die Sinneszellen im Auge aktiviert.
Welche Rolle spielt denn die Insel Rügen für Ihre Arbeit?
Rügen ist meine „Liebesinsel“ – als Kind kam ich aus dem sächsischen Freiberg das erste Mal an die Ostsee. Die Faszination des Meeres wurde im Laufe der Zeit immer stärker. In den 1960er Jahren wurde Rügen während vieler Studien zu meinem Atelier. Es bildete sich ein Humus für alle weitere künstlerische Entwicklung. Es ist zwar immer wieder Rügen – aber letztlich finde ich hier die ganze Welt!
Was zeichnet denn die Aufnahme mit der Lochkamera aus, warum interessiert es Sie?
Ich wusste als Jugendlicher nicht, ob ich Maler oder Fotograf werden sollte. Mit der Lochfotografie habe ich mein ideales Medium gefunden, denn hier malt in gewisser Weise das Licht, sichtbar werden Prozesse der Zeit. Das zeigt sich ganz besonders bei den Langzeitbelichtungen, denen ich mich seit einiger Zeit widme.
Sie nennen diese Bilder „Herrografie“.
Ja, dabei wird in Lochkameras lichtempfindliches Papier verwendet – ansonsten verzichte ich auf alles, was die Fotografie ausmacht: die Kontrolle über Licht und Zeit und die Entwicklung des Bildes durch Chemie. Wenn die Sonne scheint, entsteht sofort ihr Abbild als Punkt, dann erscheint auf dem Papier ihre Tagesbahn, Tag für Tag eine andere Linie und erst in der Folge treten Details des Motivs in Erscheinung. Ich nenne diese Werkgruppe „Grenzenlose Zeit“, weil man theoretisch bis in alle Ewigkeit belichten könnte. Doch ich bin neugierig und begrenze den Prozess – ich will ja schließlich noch erleben, was entstanden ist.
Was ist denn Ihr aktuelles Projekt?
Ich beschäftige mich mit filmischen Möglichkeiten, neue Zugänge zu den stillen Bildern der Fotografie zu schaffen. Mit einem digitalen Schnittprogramm habe ich aus dem gesamten Schaffen bisher etwa 25 thematische Bild-Sequenzen gestaltet, mit Kommentaren und Zitaten verknüpft und mit ausgewählter Musik von Bach bis Pärt emotional aufgeladen. Aus diesen „Bausteinen“ stelle ich unterschiedliche Programme zusammen für Live-Aufführungen in Theatern, Kirchen, Sälen oder im Rahmen von Ausstellungen. Diese Retrospektiven meiner Fotografie aus über sechs Jahrzehnten spiegeln die Magie von Licht, Raum und Zeit im Wandel
stilistischer Positionen wider.