Das Leben ist ein Dauerexperiment
30. Juni 2025Auf einen Kaffee mit Lutz Rathenow
Lutz Rathenow (*1952) galt nach einem Ermittlungsverfahren als Netzwerker zwischen DDR-Opposition, literarischen Szenen und West-Journalisten. Regelmäßig besucht er die Insel Rügen. Im Juli liest er im Cliff Hotel aus seinem neuen Gedichtband „Früher ist morgen“.
War das Verhältnis zum Meer zu DDR-Zeiten anders als heute?
Der Geruch verbindet alle Zeiten. An den ersten Blick auf das Meer glaube ich mich zu erinnern. Das Gefühl einer Ankunft – in der Ferne die scheinbare Endlosigkeit. Die Geräusche des Meeres gehören wie der Geruch zu einer Art Heimat. Möven tauchen in meinen stillen Gedichten immer wieder auf, auch in dem neuen Band, den ich jetzt auf Rügen vorstelle. Selbst da, wo nicht von der Ostsee die Rede ist. Sie sind sozusagen Boten des Meeres. Nein, mein Verhältnis zum Meer hat sich immer verändert und ist doch gleich geblieben. Ich sage es mal großspurig: ein Sehnsuchtskontinuum.
Die DDR-Zeiten spielten gar keine Rolle?
Doch. Eine große bei den Umständen sich den Urlaub zu organisieren. Natürlich interessierten mich DDR-früher mehr die Schiffe, die hinausfuhren. Wohin und wozu. In der Zwischenzeit war ich dort auch.
Heute sind es mehr die Schiffe, die ankommen. Woher kommen sie, wen und was bringen sie mit. Ich denke heute mehr über den Erhalt der Umwelt nach, das Meer bleibt unendlich, das Leben in ihm nicht. Als Kind und Heranwachsender war die Wassertemperatur sehr wichtig. Die Lust sich hineinzuwerfen und herumzuschwimmen, der salzige Geschmack im Mund. Heute reicht es mir meist barfuß mit hochgekrempelten Hosen durch das flache Wasser zu laufen.
Was lieben Sie an der Ostsee und insbesondere an der Insel Rügen?
Es gibt in meinem Vorgängerbuch „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten“ eine längere Geschichte, die das Verhältnis zum Meer, zur Küste, zur Rolle des Urlaubs zum Thema hat. Ich merke bei Lesungen: es ist der erfolgreichste Text aus dem Buch. Ich zitiere jetzt einfach: „Er liebte das Meer sehr, sie lebten ja weit weg davon. War die Küste schön, weil sie so schön war? Oder hinter dem Meer etwas sein mußte, was die Lust wachsen ließ, es sehen zu wollen? An der Küste wirkte die Ferne näher und gleichzeitig weniger erreichbar? Um an sie zu dürfen wurden spezielle Worte benötigt. Ein wichtiges hieß ,,FDGB-Urlaubsplatz“, für den Sohn verhieß das mit den Jahren
Sonne, Strand und Küste. Denn die Eltern wollten nur ans Meer fahren, am Rande eines Gebirges lebten sie ja und hielten Berge für nichts urlaubwürdiges.“ Die Ostsee hat überall ihre Reize. In den achtziger Jahren entdeckte ich mit meiner Frau und dann unseren Söhnen immer mehr die Insel Rügen. Sie ist landschaftlich besonders kontrastreich, groß genug immer Neues zu finden. Gerade die Halbinsel Mönchgut wurde zu einem unserer Lieblingsorte. Wir hatten ein privates Quartier und werden auch dieses Jahr wieder bekannte
Wege durchwandern.
Also ist es die Landschaft, die durch die Zeiten beeindruckt?
Auch Menschen, die ich hier kennenlernte und immer wieder im Urlaub traf. Und die von der Insel wie den Grafiker Walter Goes, bin schon gespannt wie sich die Galerie seiner Künstlerfreunde ganz in der Nähe Ihrer Redaktion weiterentwickelt hat. Ab den neunziger Jahren wurde die Insel auch ein Arbeitsort. Ich habe nicht nur Gedichte dort geschrieben, sondern stellte auf Veranstaltungen meine Bücher vor. Ich möchte den Professor Karl-Ewald Tietz erwähnen, der uns durch die Insel fuhr und mich immer wieder zu Veranstaltungen lockte. Oft in ein Hotel in Binz, später nun nach Baabe/Sellin – für mich liegt das Cliff Hotel eigentlich zwischen beiden Orten und steht für beide. Peter Schwarz vom Hotel führt das Engagement für Literatur und Kunst auch im Sinne von Karl-Ewald Tietz fort.
Also dieses Jahr ein neuer Gedichtband. Er trägt den schönen Titel „Früher ist morgen“ und beginnt mit einer Kindheitserinnerung. Wie hängt für Sie als Autor beides miteinander zusammen?
Die Gegenwart besteht immer aus ganz konkreten Handlungen, praktischen Erkundungen und den Erfahrungen, die einen dazu bringen die Dinge zu tun, die man oder frau tut. Mit zunehmenden Alter mischen sich die Dinge aus der Kindheit immer stärker in das Leben ein. So wie sanfte Blitze (ein unsinniger Begriff, ich weiß), die das Jetzt in einem anderen Licht erscheinen lassen. Das Meer und der Sand regen so etwas stark an, weil beides intensive Kindheitsgefühle erzeugt hat. Das Vergessene ist nicht wirklich vergessen.
Warum enthält der Band der Gedichte eine Triggerwarnung?
Das ist eine Parodie auf die Warnungen, die in jedem Buch der heute unter jungen Frauen so beliebten „New adult“-Romane zu lesen ist. Ich sehe das schon spöttisch. Es hat aber auch etwas anrührendes, obwohl ich kein Verfechter des Achtsamkeitskultes bin. Vielleicht staune ich auch nur über die andere Art des Herangehens von Autorinnen mit der eigenen Literatur. Oder ist es doch nur verdeckte Werbung? Meine Warnung ist ein Prosagedicht und sicher mehr Werbung es zu lesen.
Das Buch ist ein kleines Gesamtkunstwerk mit
Illustrationen der Grafikerin Katja Zwirnmann – wie eng haben sie mit ihr zusammengearbeitet und welche Rolle spielt der Verleger Ralf Liebe dabei?
Der Verleger aus Weilerswist bei Köln und die tolle Buchkünstlerin aus Leipzig haben da ein richtiges Gesamtkunstwerk geschaffen. Blau mit Orginalholzschnitten – die Grafiken erinnern auch ein wenig an das Meer. Ich habe mich da überraschen lassen und bin entzückt, was sie grafisch und typografisch aus den Gedichten gemacht haben. Das Buch kam dieses Jahr auf die Longlist der Schönsten Bücher der Stiftung Buchkunst, das hatte ich noch nie. Die zehn Holzschnitte im Buch gibt es auch als Grafikmappe, die größeren Blätter werden zur Lesung als Ausstellung präsentiert.
Wie erhalten Sie sich die Neugier auf die Gegenwart?
Na, das versuche ich in jedem Gedicht neu. Gerade in schwierigen Zeiten wie diesen will ich wissen welche Details konkret die Zeiten prägen. Und mich doch auch wegwünschen. Diese Spannung prägt die Gedichte und meine Geschichten aus dem Buch „Trotzig lächeln“. Beide werden vorgestellt. Das Lesen von Büchern und Zeitschriften trainiert die Neugier. Das Leben ist ein Dauerexperiment.
Haben Sie einen Lieblingsplatz auf Rügen?
Der Hochuferweg an der Steilküste von Sellin nach Binz oder umgekehrt ist einer der schönsten Wege der Welt. Das kann ich natürlich erst so sagen, nachdem ich mehr Vergleiche habe als die Ostblockstaaten. Das Steilufer, die Zickerschen Alpen, die Insel ist eine Ansammlung lauter Lieblingsorte.